Erinnerungsgang

Am Morgen des 10. November 1938 wurden jüdische Männer, die in der vorausgegangenen Pogromnacht von den Nazis verhaftet worden waren, von der Polizeikaserne am Pferdemarkt (in der sich heute die Landesbibliothek befindet) durch die Innenstadt zum Gefängnis in der Gerichtsstraße getrieben, vorbei an der zerstörten Synagoge, vorbei an der Oldenburger Bevölkerung. Mit dem bundesweit einmaligen Erinnerungsgang wird in Oldenburg jedes Jahr am 10. November der Weg dieser jüdischen Männer nachvollzogen. Die Organisation und Gestaltung des Programms überträgt der Arbeitskreis Erinnerungsgang jeweils einer Oldenburger Schule, 2013 ist das die IGS Flötenteich. In einer Projektwoche vom 26. bis 30. August wurden verschiedene Projekte zum Rahmenprogramm des Erinnerungsgangs gestartet. Global Music Player war mit drei Teilprojekten vertreten. Wir haben drei Projekte mit unterschiedlichen Stilrichtungen bzw. musikalischen Ansätzen angeboten, ein Bandprojekt, Singer-Songwriter und Hip-Hop bzw. Rap. Inhaltlich wollten wir nicht nur den Gedenktag und die Erinnerung daran, sondern vor allem den Bezug zur Gegenwart zum Thema machen. Wir haben auch auf ein Ziel hin gearbeitet: Am Ende der Woche sollten alle drei Teilprojekte ein vorführbares Ergebnis präsentieren. Wenn Schülerinnen und Schüler die Projektleiterinnen bzw. Projektleiter nicht aus dem täglichen Leben kennen, ist das für beide Seiten von Vorteil, weil sie ohne Vorbelastung aufeinander zugehen können. Andererseits erfordert dieser Umstand, dass man sich zunächst einmal vorstellt und gegenseitig kennen lernt. Wir beginnen daher in großer Runde, d. h. mit allen Beteiligten, zunächst mit einer Vorstellungsrunde, dann mit einem Rollenspiel, bei dem es darum geht, sich alltäglichen Fragen und Problemen aus der Sicht von anderen Menschen zu stellen, vom gut verdienenden Zahnarzt in glücklicher Ehe über die alleinerziehende Mutter, die von Sozialhilfe leben muss, bis hin zum geduldeten Flüchtling. Nach einem kurzen Abriss über Sinn und Zweck des eigentlichen Erinnerungsganges geht es dann in die drei Teilprojekte. Zeitreise durch die NS-Zeit Die Instrumentierung im Band-Projekt ist eher unüblich. Zwar gibt es eine E-Gitarre, ein Keyboard und ein Schlagzeug, aber auch eine ganze Reihe von selbstgebauten Instrumenten in allen Größen, die Christian Jakober mitgebracht hat, darunter Plastiktonnen, PVC-Rohr-Orgel, Kalimba, Bleche und Folien. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wählen aus dem breiten Angebot aus und spielen zunächst einzeln, dann aber sehr bald auch miteinander. Daraus entwickelt sich eine erste Improvisation mit wechselnder Besetzung. Ideen für den Inhalt bezieht die Band aus ihrem kollektiven Wissen über die NS-Zeit, ergänzt durch Internet-Recherchen. Dabei werden auch Original-Tondokumente gefunden, von denen später zwei in der Vorführung verwendet werden. Im Lauf der Projektwoche erarbeitet die Band eine etwa fünfzehnminütige Performance, die instrumental die NS-Zeit von der Machtübernahme bis nach dem Krieg in sieben Szenen darstellt: Die Zeit tickt, Propagandastyle, Ausgrenzung, Zusammenhalt, Nationalhymne - auf in den Krieg, Hoffnung. Dabei wechseln die Bandmitglieder mehrfach die Positionen und setzen verschiedene Instrumente ein. Christian Jakober ist sehr zufrieden mit dem Ergebnis: »Meine Erwartung war schon, dass diese Performance verschiedene Fragmente beinhaltet, die man aneinanderreihen kann. Inhaltlich hatte ich gedacht, wir beschäftigen uns mehr damit, was der Erinnerungsgang mit uns heute zu tun hat, aber es ist völlig in Ordnung, es hat sich aus der Arbeit ergeben, dass wir uns in Form einer Zeitreise künstlerisch mit der NS-Zeit auseinandersetzen. Das ist spitzenmäßig.« Auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Bandprojektes sind zufrieden, auch wenn sie von der »exotischen« Instrumentierung zunächst überrascht waren. Aber allen hat es Spaß gemacht, Ungewohntes und Neues auszuprobieren und eigene Musik gemacht zu haben. »Wir hatten eigentlich überhaupt keinen Plan, alles ist aus Zufällen entstanden, und auf einmal hatten wir eine komplette Struktur.« »Gemeinsam sind wir stark« „Rappen über einen Beat“ ist das Teilprojekt mit Bernard Ngassa überschrieben, am Ende ist aber der gesungene Part im R'n'B-Stil mindestens ebenso lang wie die Rap-Anteile. Aber zuerst lässt Bernard seine Gruppe das Internet zu den Themen Erinnerungsgang, Flucht etc. durchsuchen. Aus persönlicher Erfahrung ist ihm besonders wichtig, Ausgrenzung und Diskriminierung thematisch herauszuarbeiten bzw. dagegen zu kämpfen. So verbringt die Gruppe zunächst viel Zeit mit Diskussionen darüber, was Ausgrenzung und Diskriminierung für die Betroffenen bedeutet und was man dagegen tun kann. Formal läuft dieses Teilprojekt nicht auf eine präsentierbare Performance, sondern auf eine Studioaufnahme hinaus. Mit Hilfe des gesammelten Materials schreiben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in kleinen Gruppen oder auch allein Rap- und Gesangstexte in verschiedenen Sprachen. Bernard erweist sich als sehr kritisch, bringt die Gruppen aber damit weiter. Dann werden die einzelnen Teile getrennt voneinander optimiert. An zwei Tagen hilft Christian Bakotessa aus, der mit den Sängerinnen und Sängern an Melodie und Tempo arbeitet, während Bernard Ngassa sich um die Rapper kümmert. Am Schluss wird jeder Teil für sich studiotauglich aufgenommen. Trotz des schwierigen Beginns sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehr zufrieden mit ihrer Projektwahl und dem Ergebnis, das sich ihrer Ansicht nach mit professionellen Musikstücken messen kann. Bernard Ngassa und Christian Bakotessa hat das Engagement der Schülerinnen und Schüler begeistert. »Es gab keine Grenze zwischen uns, es gab viele Verbindungen, es war toll, mit ihnen zu arbeiten, sie haben wie Profis gearbeitet«, sagen die beiden Projektleiter. Auch die Zusammenarbeit untereinander sei sehr gut gewesen. »Sie haben gezeigt, was auch im Song beschrieben wird: Jeder kann sein, wie er will, aber wenn wir etwas gemeinsam anpacken, können wir etwas Besonderes schaffen«. So heißt der Song denn auch »Gemeinsam sind wir stark«. Erinnerung und Wertschätzung Ein Live-Auftritt ist so etwas wie die natürliche Daseinsform von Singer-Songwritern. Sophie Arenhövel und Nino Zautashvili sind erfahrene Musikerinnen und wissen, wie schwer das Zusammenwirken und wie wichtig das Aufeinander-Achten auf der Bühne ist. Sie beginnen daher mit rhythmischen Stimmübungen und Schrittfolgen, und schnell wird sichtbar, wie notwendig, aber auch, wie zielführend diese sind. Was etwas holprig beginnt, klappt mit der Zeit immer besser. Aber natürlich wird auch inhaltlich gearbeitet. Die Schülerinnen und Schüler erstellen Mindmaps zur Themenfindung und daraus Strophen und Refrain. Die Jungs der Gruppe steuern einen Rap-Part bei, der den Vorteil bietet, viel Text unterbringen und damit Inhalt vermitteln zu können. Parallel dazu werden Akkorde und Melodien entworfen. Relativ schnell steht der grundsätzliche Ablauf des Songs fest. An einzelnen Dingen wird noch gefeilt, Wörter und Sätze getauscht, ergänzt, gestrichen. Das Stück erzählt beispielhaft von willkürlicher Verhaftung und Deportation im Dritten Reich, bezieht daraus aber auch den Auftrag an uns alle, zusammenzuhalten und unsere Mitmenschen unabhängig von Herkunft, Religion, finanziellem oder körperlichem Status zu achten. Immer wieder geht die Gruppe den Song durch und arbeitet daran, Musik und Rhythmus zu verbessern. Am Ende der Woche steht eine bühnenreife Performance. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir ein ganzes Lied hinkriegen, bei den ganzen Rhythmusübungen.« So oder ähnlich formulieren es mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Gruppe. Umso zufriedener sind sie mit dem fertigen Stück. »Die Message kommt rüber, und es klingt richtig cool.« - »Ich hätte mir das viel komplizierter vorgestellt«, so weitere Stimmen. Das Schreiben der Texte fiel manchen nicht leicht, schwerer noch ist allerdings das Miteinander während der Performance. Aber Spaß hatten alle daran. Sophie Arenhövel und Nino Zautashvili sind beeindruckt von der Motivation der Jugendlichen. »Ich war selber sehr gespannt, ob wir das hinkriegen, einen Song zu schreiben. Jetzt haben wir einen Song, der mir auch gefällt, und es ist immer schön zu sehen, wenn die Jugendlichen daran Spaß haben und Ehrgeiz entwickeln, den man am Anfang gar nicht erwartet hat«, sagt Sophie. »Ich bin überrascht von der Motivation der Jugendlichen, da wurden meine Erwartungen sogar übertroffen, sie machen alle mit und sind voll dabei. Der Anspruch an sich selbst fasziniert mich, man sieht: Die nehmen die Sache richtig ernst«, ergänzt Nino. Das Ergebnis kann sich sehen und hören lassen, da sind sich beide mit ihren Teilnehmern einig. »Der Schwerpunkt in unserem Teilprojekt lag auf dem gemeinsamen Musizieren, und das ist uns gelungen.« Präsentation zum Abschluss Zum Abschluss der Projektwoche am Freitagmittag stellen alle drei Gruppen ihre Stücke einem Publikum vor, darunter eine Abordnung, die den Jugendkongress am 7. November in der IGS Flötenteich organisiert, eine Veranstaltung mit Vorträgen und Workshops rund um Ausgrenzung und Rassismus, Toleranz, Vielfalt der Kulturen etc. mit rund 150 Schülerinnen und Schülern aus Oldenburg und Umgebung. Folgerichtig werden alle drei Gruppen für den Jugendkongress und auch eine schulinterne Veranstaltung am Abend des 5. November engagiert. Jugendkongresswoche Die dafür notwendigen Proben werden für Ende Oktober und Anfang November angesetzt. Das Wiedersehen nach etwas mehr als zwei Monaten beginnt allerdings enttäuschend: Lediglich die Singer-Songwriter sind vollständig, dem Bandprojekt fehlen krankheitsbedingt zwei und den Hip-Hoppern zu Beginn sogar sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Aber Aufgeben ist keine Lösung. Die Bandmitglieder ändern ihre Performance ein wenig, so dass sie auch zu viert zu schaffen ist; vor der zweiten Aufführung am 7. November meldet sich ein fünfter zurück, so dass die Besetzung schließlich das kleinere Problem ist. Schwieriger ist da schon der Auf- und Abbau sowie die zwischenzeitliche Lagerung der zahlreichen sperrigen Instrumente. Auch dafür werden Lösungen gefunden. Die zwei verbliebenen Sängerinnen und der eine Rapper aus der Hip-Hop-Gruppe sind zunächst recht mutlos. Es erweist sich aber als großer Vorteil, dass der Song mehrspurig aufgenommen worden ist, so kann die reduzierte Gruppe live zu Teilplayback singen und rappen. Auch hier kommt noch ein weiterer dazu, und zusammen mit Bernard nutzen die vier die Zeit, eine einfache, aber ansprechende Bühnenshow zu erarbeiten. Die Singer-Songwriter könnten eigentlich ganz entspannt proben. Nervös sind sie verständlicherweise trotzdem, aber sie haben schon während der Projektwoche eine gewisse Routine entwickelt, um sich vorzubereiten und einzugrooven. Es klappt immer besser. Alle drei Teilprojekte liefern je zweimal eine mit viel Beifall belohnte Bühnenshow ab, mit der sowohl Teilnehmerinnen und Teilnehmer als auch Projektleiterinnen und -leiter sehr zufrieden sein können.